Pressemitteilung 07/2012

Ethikrat rückt den Patienten in den Fokus der personalisierten Medizin

Können Patienten und Gesundheitssystem sich künftig auf eine maßgeschneiderte Medizin freuen, die mit diagnostischen Tests für jeden die individuell beste Therapie ermittelt? Dieser Frage ging der Deutsche Ethikrat im Verlauf seiner Jahrestagung am 24. Mai nach und stellte dabei den Patienten in den Vordergrund.

Elf Referenten und über 400 Teilnehmer brachten in teils lebhaften Diskussionen ihre Hoffnungen und Befürchtungen zur fortschreitenden Individualisierung der Medizin zum Ausdruck.

„Werden Patienten auf dem Prunkwagen der personalisierten Medizin in das Paradies medizinischen Fortschritts gefahren oder werden sie vor den Karren der molekularbiologischen Forschung und der Pharmaindustrie gespannt?“, fragte Christiane Woopen, die Vorsitzende des Ethikrates, zu Beginn der Veranstaltung.

Die Vision einer personalisierten Medizin verspricht, die molekularen Besonderheiten, deretwegen Menschen verschiedene Krankheitsverläufe zeigen und unterschiedlich auf Medikamente reagieren, besser zu erfassen und bei der Behandlung und Prognose von Krankheiten zu berücksichtigen. Für Patienten, Ärzte, Solidargemeinschaft und Forschung ergeben sich durch die gewünschte Individualisierung allerdings neue Herausforderungen.

Der Pharmakologe Heyo Karl Kroemer stellte in seinem Einführungsvortrag heraus, dass eine molekulargenetische Betrachtung für den Fortschritt der personalisierten Medizin nicht ausreiche, sondern mit anderen klinischen Daten verbunden werden müsse, für die die Referenzwerte teilweise noch zu erarbeiten seien.

Den Patienten eröffneten sich, so die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack, einerseits zwar neue Möglichkeiten, die individuellen medizischen Daten über Online-Portale direkt in Forschungsprojekte einfließen zu lassen und individuelle Handlungs- oder Therapieempfehlungen einzuholen. Solche Ansätze brächten jedoch andererseits das Risiko mit sich, den Patienten zu überfordern. Überdies seien sie anfällig für Mängel bei der Datensicherheit und Qualitätskontrolle.

Gerade in der Krebsmedizin seien von personalisierten Therapieansätzen große Fortschritte zu erwarten, betonte der Onkologe Jürgen Wolf. Entscheidend für den Erfolg sei in erster Linie das Verständnis der biologischen Mechanismen, von denen die Medikamentenwirkung abhängt. Um dies voranzutreiben, müssten die Ärzte sich stärker interdisziplinär vernetzen; viele Praxen und Krankenhäuser müssten dabei zusammenarbeiten.

Hardy Müller von der Techniker Krankenkasse betonte die Bedeutung der Gesundheitsbildung der Patienten und forderte eine sozialrechtliche Beurteilung vor Einführung neuer Technologien. Problematisch seien hohe Kosten bei schwierig nachzuweisendem Nutzen für die Patienten. Es sei daher wichtig, diese Bedenken rechtzeitig gesellschaftlich breit zu diskutieren.

Auch der Sozialmediziner Heiner Raspe hält den vorschnellen Einsatz individueller diagnostischer Tests und Therapien in vielen Fällen für bedenklich. Die Aussicht auf Profit führe insbesondere bei von Patienten individuell zu bezahlenden Zusatzleistungen oft zu überzogenen Versprechungen der Anbieter bei gleichzeitiger Entwertung des Angebots der gesetzlichen Krankenkassen. Eine Finanzierung der häufig sehr teuren Maßnahmen durch die Kassen jedoch bringe Probleme für die Solidargemeinschaft mit sich. Es fehlten nicht nur Ressourcen in anderen Bereichen; die Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit von Krankheiten werde überschätzt und – darauf aufbauend – gerieten Patienten und Ärzte unter einen zunehmenden, wissenschaftlich jedoch kaum haltbaren Druck.

Welche Herausforderungen die personalisierte Medizin für die Forschung bedeutet, diskutierten Hagen Pfundner von der Pharmafirma Roche und Jürgen Windeler vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.

Aus Sicht der Industrie sei die Entwicklung und Vermarktung von Arzneimitteln für kleinere Patientengruppen dann sinnvoll, wenn der klinische Nutzen durch den individuellen Zuschnitt der Therapie stärker zunehme, als die Zielgruppe kleiner werde, erklärte Pfundner. Höhere Kosten durch die komplexe und aufwendige Forschung zur Ermittlung der Patientengruppen, für die ein bestimmter Therapieansatz geeignet ist, ließen sich im Idealfall durch die Vermeidung von Fehlbehandlungen und die dadurch gesteigerte Systemeffizienz und Versorgungsqualität ausgleichen. In jedem Fall könnten und sollten die etablierten Methoden der evidenzbasierten Medizin bei der Evaluierung der neuen Ansätze unvermindert zum Einsatz kommen, forderte Windeler.

Zum Abschluss der Tagung diskutierten die Humangenetikerin Daniela Steinberger, der Medizinethiker Giovanni Maio, der Patientenvertreter Wolfram-Arnim Candidus und der Pathologe Manfred Dietel in einer Podiumsrunde und unter Mitwirkung des Publikums über den „Patienten der Zukunft“. Konsens herrschte dabei in der Frage, dass sich die vielen Facetten des Themas nur schwer in einem präzisen Begriff fassen lassen. Auf den Begriff „personalisierte Medizin“ sollte man daher verzichten und stattdessen stärker präzisieren, worüber man gerade spricht. In einer gemeinsamen Anstrengung sollten biologische, psychologische und soziale Ansätze die auf das Individuum ausgerichtete medizinische Forschung und Versorgung vorantreiben – dann seien Patienten Nutznießer des Fortschritts, so Christiane Woopen in ihrem Schlusswort.

Das Programm der Jahrestagung sowie die Vorträge und Diskussionbeiträge können unter "Jahrestagungen" abgerufen werden.